Filmtagebuch
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Yi Yi (Taiwan/JPA 2000, E. Yang)

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Yi Yi (Taiwan/JPA 2000, E. Yang) Empty Yi Yi (Taiwan/JPA 2000, E. Yang)

Beitrag von Admin Mo Sep 02, 2019 2:32 pm

gesehen am 10.09.2006 (DVD) und 04.07.2011 (BD); 4/5

Ganz unverschämt, voll offener Neugier versucht der kleine Yang-Yang (Jonathan Chang) der Nachbarin ins abgewandte Gesicht zu schauen. Wie, sagt er, solle er sonst wissen, warum sie weint? Wir brauchen die Kamera, um über unsere eigenen Gesichter etwas erfahren zu können, erklärt ihm der Vater, NJ (Wu Nianzhen). Als Yang-Yang dann aber einen Fotoapparat bekommt, wird sein Blick ein anderer, weniger direkter, schamloser, konventioneller: Er fotografiert Hinterköpfe. Und schenkt dann die Fotos den so »Porträtierten« – damit sie eine Seite von sich entdecken können, die sie mit eigenen Augen nicht sehen können.

Es ist eine kleine Philosophie seines eigenen künstlerischen Ansatzes, die "Yi Yi" da vorführt: Denn auch Edward Yangs Film wird angetrieben von dem Glauben, dass die Kamera uns etwas über uns selbst zeigen kann, dass sie Wahrheiten aufzeichnen und aufdecken kann. Dass dies aber nicht geht, wenn man nur die vertraute und naheliegende Perspektive wählt. Yangs Kamera hält sich zurück. Sie ist ganz selten nur Teilhaber des Geschehens; sie beobachtet die Figuren aus der Ferne oder im Zwielicht, lässt sie gelegentlich verdeckt oder mit abgewandtem Gesicht, schaut sie an durch Fenster und wieder und wieder in Spiegelungen – reflektierend, dass wir es nur mit Abbildern zu tun haben. Sie bewahrt eine Distanz, die überhaupt nichts Kühles hat, aus der allein Respekt spricht: Yang will seinen Charakteren nichts entreissen, will Tiefes nicht dadurch entblößen, dass er es bloß stellt. Respekt ist das – und das stille Wissen, dass nichts im Leben so tragisch oder so freudig ist, dass es allein schon das ganze Bild darstellen könnte. Nur einmal, als Mutter Min-Min (Elaine Jin) die ganze Leere, Hohlheit, das Gefangensein ihres Lebens überkommt, erlaubt sich Yang, einen Gefühlsausbruch groß ins Bild zu setzen. Sonst bleibt immer Raum für die Welt um die Protagonisten, für die Erfahrungen und Gedanken des Publikums. Yangs Respekt ist auch einer vor seinen Zuschauern, die er sicher an die Quelle geleitet, nicht aber zum Trinken prügelt.

Das ganze Bild kann sich bei Yang ohnehin erst ergeben, wenn sich zur Eins die Zwei hinzugesellt – seine Charaktere erklären sich nicht in großen Gesten der Individualität, sondern erst in den Beziehungen zueinander. Wenige Momente nur des Alleinseins gibt es in Yi Yi, und wenige Solo-Auftritte vor der Gesellschaft; fast immer geht es darum, was eine Szene für alle Beteiligten bedeutet. Mit langem, ruhigem Atem (aber nie langatmig) etabliert der Film die Rollenverteilung in der und um die Familie Jian, wie ein Puzzle setzt sich das allmählich zusammen. Die Fäden laufen zusammen bei Vater NJ – der nach Jahrzehnten unerwartet seine Jugendliebe Sherry (Ke Suyun) trifft, während er in Firma und Familie von kleinen Katastrophen umgeben ist. Was sich da zwischen einer Hochzeit und einem Todesfall abspielt, ist das Panorama nicht nur einer Familie, sondern des ganzen Lebens. Von Geburt bis Tod ist jedes Lebensalter vertreten, mit seinen neuen und alten Erfahrungen, mit seinem eigenen Blick auf die Dinge. In einem seiner schönsten Momente spannt Yang durch Parallelmontage den Bogen von NJ, der mit Sherry der ersten Liebe möglicherweise eine zweite Chance geben wird, zu Tochter Ting-Ting (Kelly Lee) und ihrem Freund, bei denen vielleicht eine ähnliche Geschichte gerade ihren Anfang nimmt.

"Yi Yi" ist erzählt mit Raum für Trauer, aber viel Humor und Optimismus, ist oft anrührend, aber niemals rührselig, höchst kunstvoll, aber nie gekünstelt. Nichts an dem Film ist aufdringlich, alles eindringlich. Das gilt für die Kamera wie für den höchst präzisen Einsatz der Musik (die gelegentlich auch geschickt mit Zitaten arbeitet), und nicht minder für das durch die Bank absolut überzeugende Spiel der Darsteller. Es gäbe ein Wort, das den bestimmenden Eindruck des Films einfangen könnte, hätte es nicht diesen gänzlich unangebrachten Beigeschmack von Stickkissen-Sprüchen und Besserwisserei (von denen "Yi Yi" gar nicht weiter entfernt sein könnte): Das Wort wäre Weisheit. Dabei schafft es der Film, beständig auch über seine eigenen Voraussetzungen nachzudenken, ohne dass dies je aufgesetzt, gezwungen, prätentiös oder verquast wirkte. Selbstverständlich ist Yang-Yang (allein der Name macht es mehr als deutlich), der Junge mit der Kamera, auch so etwas wie ein Stellvertreter des Regisseurs Yang innerhalb der fiktionalen Welt. Seine Entdeckung der Kamera, sein stummer, sturer Kampf gegen den Unverstand des Lehrers, der sich über seine Bilder lustig macht, und nicht zuletzt sein Schluss-Monolog: Das alles zeigt naheliegende Verbindungen zu Yangs künstlerischem Credo.
Aber schon mit den ersten Szenen, als sich bei der Hochzeit die Familie zum Gruppenfoto postiert, eröffnet Yi Yi unterschwellig einen Diskurs über das Abbilden, der sich durch den gesamten Film zieht. Yang (der – wie NJ – ausgebildete Elektroingenieur und Computer Designer ist) teilt nicht die postmoderne Grund-Skepsis, den Glauben an die unüberbrückbare Kluft zwischen Wahrem und Reproduziertem (und die kategorische Unzugänglichkeit des Wahren). Auch der japanische Videospiel-Designer Mr. Ota (Issey Ogata) ist eines von Yangs Sprachrohren in diesem Film. Er erzählt von der Möglichkeit, die Technik, das Virtuelle zu nutzen, um Leben (nach) zu schaffen, predigt über die Notwendigkeit des kreativen Wagnisses. Und zeigt, wie pure Beobachtung, pures Erinnern, wenn sie nur genau genug sind, ununterscheidbar werden von Magie.

In einer der ganz wenigen Szenen, in der Yang das Spiel mit den filmischen Möglichkeiten unübersehbar an die Oberfläche treten lässt, zeigt das Bild die Ultraschallaufnahme von NJs werdendem Neffen, während eine weibliche Stimme vom Entstehen und Wachsen des Lebens spricht – doch was wir zunächst für die Ärztin halten müssen, entpuppt sich als die (schon zur nächsten Szene gehörende) Übersetzerin des Spieldesigners, die in Wahrheit von Otas Projekt spricht: Die Sätze über ein virtuelles Lebewesen sind gültig auch für ein echtes – das selbst wiederum nur als virtuelles Abbild sichtbar wird. Das beste Argument für diese Überzeugung von der Transportierbarkeit wahren Lebens durch technische Medien ist letztlich das Gelingen von "Yi Yi" selbst: Man kann, glaube ich, diesen Film nicht sensibel sehen, ohne das Gefühl zu verspüren, dass er tatsächlich an Wahrem, Wesentlichen rührt. Ohne immer wieder getroffen zu sein davon, wie treffend er ist. Und das eben genau weil er sich weigert, die üblichen Spiele der Überrumpelung, Überwältigung zu spielen; weil er nie vertuscht, dass er nur Abbild ist. Weil er, so unglaublich genau er gearbeitet ist, immer Freiräume lässt, seinen Figuren und seinem Publikum. Nie auftrumpft mit einer vorgeblichen ganzen Wahrheit, sondern uns zeigt, dass man von allem nur einen Teil sehen kann, Ausschnitte, Spiegelungen – und dennoch daraus ganz starke Hoffnung schöpft, dass dies viel, viel mehr ist als Nichts; dass uns die in diesen Teilstücken gespeicherte Erfahrung ein gutes Stück weit bringen kann. Warum man eigentlich ins Kino geht, wird in "Yi Yi" – gewohnt selbstreflexiv – einmal gefragt, und die Antwort ist: Weil man durch das Kino quasi doppelt leben kann. Bei einem Film wie diesem trifft das allemal.

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